«Es ist ein Gewurstel»: Der Lehrermangel überschattet in Zürich den Schulbeginn

Wie es zu dieser Misere kam – und wo sie am schlimmsten ist.

Giorgio Scherrer 5 min
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Alle Jahre wieder: Schulen im Kanton Zürich versuchen bis im letzten Moment, alle Stellen zu besetzen. Irgendwie.

Alle Jahre wieder: Schulen im Kanton Zürich versuchen bis im letzten Moment, alle Stellen zu besetzen. Irgendwie.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Eigentlich hat die Schulleiterin Martina Schwarz Glück gehabt. Nur eine Klassenlehrerstelle musste sie an ihrer Schule in Urdorf neu besetzen. Eine einzige Stelle in einem Schulhaus mit 18 Klassen – doch schon das war zu viel.

Jemand Zuverlässiges für eine 5. Klasse war gesucht – für eine Stelle mit hohem Pensum und Verantwortung bei der Klassenführung. «Dafür braucht es eine Person mit abgeschlossener Ausbildung und idealerweise Berufserfahrung», sagt Schwarz.

Doch niemand mit diesem Profil meldete sich auf die Ausschreibung.

«Es ist schade», sagt Schwarz. «Wenn man niemand Passendes findet, leidet die Qualität. Lehrpersonen sind die zentralste Einheit des Schulsystems, aber es hat einfach nicht genug.»

Wie der Schulleiterin Schwarz erging es in den letzten Wochen und Monaten Schulverantwortlichen im ganzen Kanton. Es ist ein Rennen gegen die Zeit, das sich seit geraumer Zeit jährlich wiederholt: bis zum Schulstart alle Stellen zu besetzen. Irgendwie.

Wenige Tage vor Unterrichtsbeginn zeigt sich nun: Der Lehrermangel ist in Zürich akut. Es sind mehr Stellen unbesetzt als in den vergangenen Jahren: 46 sind es – 2022 waren es zum selben Zeitpunkt noch 7.

Gleichzeitig hat auch die Zahl der Lehrpersonen ohne Diplom zugenommen: 620 von ihnen sind gegenwärtig gemeldet, mehr könnten noch dazukommen. Vor einem Jahr sprach die Bildungsdirektion in der Woche vor Schulbeginn von 330 Lehrpersonen ohne Diplom, aus denen im vergangenen Schuljahr dann insgesamt 550 wurden.

Mehr unbesetzte Stellen – und das trotz mehr undiplomiertem Personal. Was ist da passiert?

Ausbildung kommt nicht nach

Myriam Ziegler, die Chefin des kantonalen Volksschulamts, hat darauf eine klare Antwort: Demografie. «Wir haben dieses Jahr 3000 Schülerinnen und Schüler mehr als letztes Jahr. Das bedeutet allein schon 120 zusätzliche Klassen und 240 zusätzliche Lehrpersonen.»

Trotz umfangreichen Gegenmassnahmen des Kantons bleibe der Lehrermangel eine immense Herausforderung, sagt Ziegler. «Der Bedarf wächst schlicht schneller, als wir ausbilden können.»

Seit Jahren akzentuiert sich diese Situation stetig. Im vergangenen Schuljahr kamen deshalb zum ersten Mal die «Personen ohne Lehrdiplom» – im Fachjargon «Poldi» genannt – zum Einsatz. Im Frühjahr verlängerte die Bildungsdirektion die Massnahme auch für das kommende Schuljahr. Und schaut man sich den Trend bei den offenen Lehrerstellen an, lässt sich unschwer erkennen: Die «Poldi» werden wahrscheinlich auch in den kommenden Jahren eingesetzt werden.

Zwar waren dieses Jahr zunächst weniger Lehrerstellen offen als 2022, als diesbezüglich Rekordwerte erreicht wurden. Doch von einer Trendwende will Ziegler nicht sprechen. Schliesslich zählten am Ende die offenen Stellen bei Schulbeginn.

Der Lehrermangel spitzt sich zu

Anzahl offene Stellen vor Schuljahresbeginn im Kanton Zürich, Kindergarten, Primar- und Sekundarstufe
2023
2022
2021
2020

Momentan bereiten dem Kanton und dem Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband (ZLV) vor allem die drei noch offenen Stellen für Klassenlehrpersonen Sorge. ZLV-Präsident Christian Hugi sagt: «Die Lage hat sich zugespitzt.» Der Lehrermangel – zunächst lange auf spezialisierte Lehrpersonen oder solche ohne Klassenverantwortung begrenzt – sei in den letzten Jahren im Kern des Schulsystems angekommen.

«Vollzeit kann man diesen Job fast nicht machen»

Während die Amtschefin Ziegler dem Schulstart trotz allem entspannt entgegenblickt, ist Hugi alarmiert. Er sagt: «Solange man auf Laien zurückgreifen muss, wirken die Massnahmen gegen den Lehrermangel nicht genügend.»

Seit Jahren fordert der ZLV deshalb bessere Arbeitsbedingungen für Lehrpersonen. Die hohe Belastung sei schuld an Berufsausstiegen und der hohen Teilzeitquote, sagt Hugi. «Vollzeit kann man diesen Job eigentlich fast nicht mehr machen.»

Mehr Vorbereitungszeit, weniger Bürokratie im Schulalltag: Das will auch die Bildungsdirektion und hat im März ein entsprechendes Massnahmenpaket in die Vernehmlassung geschickt. Höhere Mindestpensen für Lehrpersonen sind ebenfalls geplant.

Das Problem ist jedoch: Diese Massnahmen werden höchstens langfristig ihre Wirkung entfalten. Auch eine neue berufsbegleitende Ausbildung an der PH Zürich wird erst ab Herbst 2024 möglich sein.

Grosser Aufwand für reguläre Lehrkräfte

Kurzfristig sind die «Poldi», die Lehrer ohne Diplom, zum Symbol für den Personalnotstand in den Zürcher Schulen geworden. Über ihren Einsatz im vergangenen Jahr zieht Myriam Ziegler vom Volksschulamt eine positive Bilanz. «Ihr Einsatz hat sich bewährt», sagt sie. «Man muss allerdings auch den grossen Aufwand anerkennen, den die regulären Lehrpersonen bei ihrer Unterstützung geleistet haben.»

Von diesem Aufwand berichtet auch die Urdorfer Schulleiterin Martina Schwarz. Sie sagt: «Es reicht nicht, dass man jemanden einfach vor eine Klasse stellt. Die Person muss sich dem auch gewachsen fühlen. Alles Nötige zu lernen und zu verstehen – das braucht Zeit.»

Wenn die ausgebildeten Lehrpersonen ihre unausgebildeten Kollegen faktisch ausbilden müssten, sei das ein Problem. «Dafür fehlt uns neben dem Unterrichten schlicht die Zeit.»

Das hat im Grundsatz auch der Kanton erkannt. Er will die Lehrer ohne Diplom in Richtung Ausbildung lotsen – und sie damit auf Dauer für das Schulsystem sichern. Dafür hat er eine Regel erlassen, die auch der ZLV begrüsst: Normalerweise dürfen solche Lehrpersonen maximal ein Jahr an einer Schule bleiben. Entscheiden sie sich jedoch, ein PH-Studium zu starten, darf ihr Vertrag auch darüber hinaus verlängert werden.

Das Problem hierbei: Das werden diesen Herbst nur 19 von ihnen tun, wie die PH Zürich mitteilt. Weitere 29 wären ebenfalls zugelassen, haben den Studienstart aber verschoben.

Es fehlen die Heilpädagogen

Zusätzliche Hürden gibt es in jenem Bereich, in dem der Mangel an Lehrpersonen am grössten ist: der schulischen Heilpädagogik.

Über die Hälfte der momentan noch unbesetzten Stellen sind dort angesiedelt. Die Statistik des kantonalen Volksschulamts zeigt: Je näher der Schulstart rückt, desto grösser wird der Anteil der Heilpädagoginnen am Total der gesuchten Lehrpersonen – und das schon seit Jahren. Diese Fachkräfte sind also besonders schwer zu finden.

Die Suche nach Heilpädagogen dauert länger als die nach regulären Lehrpersonen

Anteil schulische Heilpädagogen am Total der offenen Lehrerstellen im Kanton Zürich, in Prozent
2023
2022

Myriam Ziegler vom Volksschulamt sagt dazu: «Bei den Heilpädagogen war die Situation schon immer angespannt.» Dazu komme, dass viele von ihnen über ein reguläres Lehrdiplom verfügten – und damit auch für reguläre Unterrichtsstellen abgeworben würden.

«Die Gefahr besteht, dass sich verschiedene Schulzweige gegenseitig konkurrenzieren», sagt Ziegler. Dem wirke der Kanton mit einem Ausbau der Ausbildungsplätze entgegen.

Bei Martina Schwarz in Urdorf ist das Problem ebenfalls bekannt. Sie muss froh sein, wenn sie ihre Heilpädagogik-Stellen irgendwie besetzen kann. Fast alle Heilpädagoginnen in ihrem Schulhaus haben dementsprechend keine abgeschlossene Spezialausbildung. Zwei von ihnen verfügen über gar kein Lehrdiplom.

«Wir haben ein integratives Schulsystem, aber keine passenden Lehrpersonen dafür. Das ist absurd», sagt Schwarz.

Ähnlich sieht das Christian Hugi vom Lehrerinnen- und Lehrerverband. Er sagt: «Es kann nicht sein, dass es in der Heilpädagogik zu Einbussen kommt, weil wir die dortigen Experten als reguläre Lehrpersonen brauchen. Die Schülerinnen und Schüler haben Anspruch auf beides – guten Unterricht und sonderpädagogische Unterstützung.»

Ein Silberstreifen am Horizont?

Viel Kritik am Lehrermangel, aber kaum kurzfristige Lösungen: So präsentiert sich die Situation wenige Tage vor dem Zürcher Schulstart. Dieses ernüchternde Fazit ist nicht neu; es ist seit Jahren dasselbe. Der «Silberstreifen am Horizont», den die Bildungsdirektorin Silvia Steiner (Mitte) in Bezug auf den Lehrermangel gerne anführt: Er ist für die Beteiligten noch sehr weit weg.

Immerhin: Für ihre Klassenlehrerstelle in Urdorf hat Martina Schwarz eine Übergangslösung gefunden. Bis im Winter konnte sie eine erfahrene Vikarin verpflichten. Wie es danach weitergeht, weiss Schwarz nicht. Aber für den Moment sei das die bestmögliche Lösung.

«Das ist im Grunde das Problem», sagt sie. «Am Schluss geht es immer irgendwie. Aber es ist ein Gewurstel. Und das macht den Lehrerjob auch nicht attraktiver.»